tl;dr - Die Reduzierung von Menschen auf ein einziges Kriterium - und sei es das Geschlecht - ist albern.
Deshalb zurück zu den Fakten, bitte!
Eines vorweg, ja, es ist sehr bedauerlich, dass im Vorstand der OSMF nun das weibliche Element fehlt.
Ich frage mich aber, warum - nach Wahlen zum Vorstand - Kriterien wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft thematisiert werden. Warum werden nicht auch Religion, Lebensalter, Abstammung, Migrationshintergrund, Haarfarbe, Beruf des Vaters und der Mutter, Breiten- und Längengrad thematisiert. Die Reduzierung von Menschen auf ein einziges Kriterium - und sei es das Geschlecht - ist albern. Auch ich als “alter weißer Mann” kann eine benachteiligte Minderheit aufführen, der ich angehöre, und deren Repräsentanz aus meiner Sicht in der OSMF dringend erforderlich ist.
Ich war vor kurzem zu einem sechswöchigen ehrenamtlichen Aufenthalt in der Dominikanischen Republik. Thema war die Verbesserung der Bildung und der Ausbildung. Auf einem Kongress mit ca. 1500 Lehrern hatte ich das Vergnügen einen Vortrag zu hören zum dem Thema “Communicación Asertiva”. (https://www.youtube.com/watch?v=eHAKnfMUlz4 ab Min 5:00) [ES]
Am Beispiel von Avianca Flug Nr. 52 (https://en.wikipedia.org/wiki/Avianca_Flight_52), bei dem weder Pilot noch Kopilot darauf hinwiesen, dass ihnen der Treibstoff ausgeht (Fazit: Absturz und 65 Tote) wurde das (für die lateinamerikanische Kultur sehr schwierige) Thema “Communicación Asertiva” von allen Seiten beleuchtet. Communicación asertiva ist also nichts anderes als “die Dinge beim Namen nennen”, was in der europäischen Kultur unproblematisch ist, aber wohl in weiten Teilen der Welt zu Gesichtsverlust führen kann.
In diesem Sinne lasst uns die Dinge beim Namen nennen.
Nach jeder Vorstandswahl kommen immer wieder die gleichen Klagen, Vorwürfe oder gar Beleidigungen: Kolonialismus, Neokolonialismus, Dominanz des “alten weißen Mannes”, “Genderungerechtigkeit”, “a club of Northern white male amigos” … und so weiter.
Nun aber zu meinem Anliegen, die Dinge beim Namen zu nennen, dazu werde ich lediglich Fakten auflisten. Die Mühe, dass Du Dir daraus Deine eigene differenzierte Meinung bilden musst, nehme Dir nicht ab! Aber sage nie wieder, diese Fakten seien Dir nicht bekannt.
1. Kolonialismus, Neokolonialismus, Dominanz des “Alten weißen Mannes”
2. Genderungerechtigkeit
- obwohl ich oben schon erwähnte, dass ich eine Beschränkung auf ein menschliches Merkmal für absurd halt, müssen nachfolgende Fakten erwähnt werden, damit Du Dir Deine Gedanken machen kannst.
2.2 Kandidaten zur Vorstandswahl
Female 1 Male 11
2.3 Mitglieder der Working Groups nach Geschlecht - nicht nach Religion, Hautfarbe oder Alter
Working Group |
Total |
Female |
Male |
% |
LWG |
12 |
2 |
10 |
17 |
OWG |
5 |
0 |
5 |
0 |
CWG |
13 |
2 |
11 |
15 |
- CWG translators |
7 |
0 |
7 |
0 |
SotM OC |
6 |
1 |
5 |
17 |
- SotM 2019 local |
15 |
4 |
11 |
27 |
MWG |
9 |
0 |
9 |
0 |
DWG*) |
13 |
0 |
13 |
0 |
*) Bei einer WG meldet man sich an. Fertig. Und man kann mitmachen. Es gibt keine Wahl - ausser bei der DWG, dort wird man berufen.
- Die Mitarbeiter von weeklyOSM Ausgabe #490 nach Sprachen
Language |
Total |
Female |
Male |
EN |
11 |
2 |
9 |
ES |
8 |
2 |
6 |
JP |
2 |
0 |
2 |
KO |
1 |
0 |
1 |
CZ |
1 |
0 |
1 |
BR |
1 |
0 |
1 |
DE |
9 |
1 |
8 |
PT |
2 |
1 |
1 |
TR … I don’t know because they are pretty new
Weitere Punkte, über die es sich lohnt nachzudenken:
1. Vorstand ist ein Ehrenamt, ein Ehrenamt benötigt Zeit.
Die Angehörigen verschiedener Gruppen – egal ob man die Grenzen zwischen Geschlechtern, Hautfarben, Berufen oder Staaten zieht –, haben unterschiedlich viel Freizeit. Ein Amt, das in der Freizeit ausgeübt werden sollte, ist nicht für Leute attraktiv, die heute nicht wissen, ob sie sich morgen etwas zu essen haben. Leute zu bezahlen, führt zu neuen Abhängigkeitsproblemen und einem erhöhten Bedarf an finanziellen Mitteln und Abhängigkeit von Geldgebern.
2. Die Arbeit des Vorstands und der Foundation hat wenig mit Strategie zu tun.
Das OSM-Projekt ist gelebte Dezentralität und gelebte Abwesenheit zentraler Lenkung. Es ist ein Graswurzelprojekt. Die Aufgabe des Vorstandes ist es nicht, Ziele vorzugeben, sondern zu schauen,
-
dass genügend Geld für den Serverbetrieb da ist,
-
die für die Arbeit der Community erforderlichen Dienste zur Verfügung stehen,
-
die Lizenz durchgesetzt und die Marke geschützt/verteidigt wird.
-
Zudem gehört die Beantwortung von Anfragen Dritter zum Aufgabenbereich der Foundation.
Wer etwas bewegen will, macht es einfach – sei es als normales Communitymitglied oder als Mitglied einer Arbeitsgruppe. Es gibt großartige Beispiele in OSM, wie man ohne die OSMF Großes erreichen kann, z.B. HOT oder Missing Maps.
3. Code of Conduct & Öffentlichkeit
Was es eigentlich in OSM braucht, ist nicht unbedingt ein Code of Conduct, sondern ein ehrlicher Umgang miteinander und mit dem Projekt. Es kann nicht sein, dass aktive, recht stark involvierte Personen ihr eigenes Projekt in der Öffentlichkeit außerhalb von OSM schlechtreden und z. B. als frauenfeindlich bezeichnen, solange es dafür keine Beweise gibt.
Bevor wir uns über die Lösung von Problemen Gedanken machen, müssen wir zuerst zu einem faktenbasierten Diskurs zurückfinden. Ich frage mich, inwiefern Behauptungen in Kurznachrichtendiensten dem Projekt dienen, da diese Dienste nicht für einen qualifizierten Diskurs geeignet sind.
Ein Code of Conduct wird häufig als etwas angepriesen, was man unbedingt haben müsse. Regelwerke, selbst solche mit Regelungen zu Durchsetzung und Sanktionen, sind nur sinnvoll, wenn sie auch durchgesetzt werden. Bevor man sich mit der Frage beschäftigt, was in einem Code of Conduct stehen sollte, sollte eine gründliche Bestandserhebung erfolgen. Teile dieser Erhebung sind reine Recherchearbeit, um Informationen strukturiert zusammenzutragen. Andere erfordern eine neutrale Analyse, die den Grundsätzen der guten wissenschaftlichen Praxis folgt.
Der Diskurs hinsichtlich der Diversity-Förderung und einer möglichen Einführung eines Codes of Conduct darf nicht nur auf Basis von Gefühlen und Meinungen erfolgen. Er sollte auf überprüfbaren Fakten basieren, denn auch OSM ist ein Faktensammelprojekt.
Mal ganz ehrlich: Ich weiss nicht, warum bestimmte Gruppen immer über einen CoC reden. Kants kategorischer Imperativ würde mir und sicherlich allen anderen völlig genügen. In einem Satz wäre alles gesagt. Aber vielleicht ist Kant auch in weiten Teilen der Welt nicht bekannt. ;-) Hier könnte der Vorstand einmal mit Weisheit glänzen und vorangehen.
Eine solche Erhebung und Analyse sollte die folgenden Fragen beantworten:
- Wer moderiert welche Kommunikationskanäle? Welche Grundsätze wenden die jeweiligen Moderatoren an?
- Gibt es veröffentlichte Regeln?
- Wie werden diese ausgelegt und angewendet?
- Gibt es weitere, nicht öffentliche Entscheidungsgrundsätze?
- In welchen Fällen sind Moderatoren aktiv geworden? Wie verteilen sich die Anlässe (Verhältnis verschiedener möglicher Regelverstöße untereinander, Anzahl der Ereignisse)?
- Welche Maßnahmen wurden im konkreten Fall getroffen?
- Welche Maßnahmen zur künftigen Vorbeugung wurden getroffen?
- Wie wird das Vorgehen der Moderatoren und ihre Strenge von den Nutzern und Nichtnutzern der jeweiligen Kanäle bewertet?
- Hängen Geschlecht, Kultur und andere Eigenschaften der Antwortenden mit den Antworten zusammen?
- Was sind die Ergebnisse?
- Sollte eine Organisation sich für ihre Ziele ausschließlich auf Thesen und Vermutungen verlassen?
Die Grundlagenermittlung bietet ein großes Betätigungsfeld für Wissenschaftler. Mit den Untersuchungen der oben genannten Fragen könnte man sicherlich einen ganzen Tag Programm auf der SotM füllen. Wäre dies nicht eine Gelegenheit, eine Arbeitsgruppe für den akademischen Outreach zu gründen, die mit konkreten Forschungsaufträgen an geeignete Forscher herantritt?
4. Diversity
Von Leuten, die sich für Diversity engagieren, wird immer wieder angeführt, dass eine Karte, die allen dienen soll, auch von allen (auch Nicht-Männern) erstellt werden soll.
-
Zwar gibt es eine Reihe an Untersuchungen, wie hoch der Frauenanteil in OSM ist (je nach Quelle 4 bis 10 Prozent). Es gibt bislang jedoch keine brauchbaren Studien, die Unterschiede im Mappingverhalten von Frauen und Männern hinsichtlich der bearbeiteten Features aufzeigen.
-
Gebetsmühlenartig wird die Behauptung “toxischer” Mailinglisten wiederholt. Belege dafür sind rar bzw. werden auf Bitten hin nicht nachgereicht. Gibt es eine Studie – akademisch oder nicht akademisch – die folgende Fragestellungen unvoreingenommen untersucht haben?
- Welche Aktiven des OpenStreetMap-Projekts nehmen an den kritisierten Kommunikationskanälen teil oder haben teilgenommen?
- Wie nehmen sowohl Teilnehmer als auch Nichtteilnehmer den Kommunikationsstil und die Freundlichkeit der verschiedenen Kanäle wahr?
- Wie unterscheiden sich die Antworten auf diese Fragen zwischen verschiedenen Gruppen z.B. Frauen und Männern, Europäern, Nordmerikanern, Asiaten usw., kommerziell aktiver und reinen Hobbyisten?
- Hat die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einen Einfluss auf die Wahrnehmung?
Fragen über Fragen
Immer wieder hört man die Forderung, dass Ziel-Quoten oder verbindliche Quoten für Nicht-Männer in den Arbeitsgruppen einführt werden sollen.
-
Welche Vorteile außer eine reinen Frauenförderung soll das bringen?
-
Wie hoch ist der Anteil der in Arbeitsgruppen investierten Arbeit an den insgesamt jährlich im OSM-Projekt geleisteten Arbeitsstunden?
-
Wird hier nicht vielleicht ein leichter sichtbarer Randaspekt von OSM – nämlich die OSMF und ihre Arbeitsgruppen – als Hauptproblem aufgebauscht?
-
Müsste man nicht, wenn man es konsequent angeht, eine Frauenquote für OSM-Bearbeitungen einführen? Oder wird hier über eine aufgeblasene Sache diskutiert, weil sich niemand traut, das Problem fest anzupacken und unpopuläre Vorschläge zu machen?
-
Soll man aus den Arbeitsgruppen “alte weiße Männer” entfernen, solange bis eine Quote erreicht ist?
5. Diversity-Förderung kann viel heißen
– von angemessenem (mancher würde sagen: normalem) Umgang mit Unfreundlichkeit & Co. in den Diskussionsräumen über Programme zur Ermutigung und Förderung Unterrepräsentierter bis hin zu konkreten Quotenregelungen. Ersteres nennt man oft Moderation, zweites heißt manchmal “Outreach Programm”. Eine Moderation ist für ein Projekt im Internet, das aus mehr als nur ein paar Leuten besteht, leider immer erforderlich, um Leute zur Ordnung zu rufen und durch moderierende Eingriffe ggf. zu erziehen. Das geschieht schon heute bei OSM, jedoch wird, um Trollen keine Bühne zu bieten, wenig Aufhebens darum gemacht. Wer jedoch mal in die Liste der von der DWG vergebenen Sperren schaut, findet die einschlägigen Fälle (im Forum und auf Mailinglisten gibt es keine öffentlich einsehbaren Sperrlisten).
Glaubwürdig werden Forderungen nach Diversity aber nur, wenn die Fordernden den ihnen schon jetzt als Communitymitglieder und Foundation-Mitglieder zur Verfügung stehenden Spielraum nutzen und selbst das Projekt mitgestalten:
- Es ist jedoch schade, dass selbst diejenigen, die sich Diversityförderung (und Moderation als ein Mittel dafür) groß auf die Fahnen schreiben, nicht Vorschläge zur Umsetzung ihrer Programme eingehen. Beispielsweise schlug Michael Reichert im März 2018 vor, für alle Bereiche des Forums einen Moderator zu berufen. Passiert ist seitdem nichts, obwohl mehrere profilierte Diversity-Befürworter damals im Vorstand waren. (Michael hat sich damals einfach selbst zum Moderator für das österreichische Forum berufen lassen, um dort für Ordnung zu sorgen)
- Die Mitglieder können auf den Mitgliederversammlungen Anträge stellen, die dem Vorstand Weisungen zur Erledigung seiner Geschäfte erteilen. Von dieser Möglichkeit, überhaupt Anträge zu stellen, wurde in Diversity-Fragen bislang nicht Gebrauch gemacht.
- Wäre es nicht erst einmal an der Zeit auf diverstiy-talk Aktivität zu zeigen, dadurch Einfluss zu erlangen, sich ein wenig zu beweisen und vielleicht auch Vertrauen zu gewinnen, bevor man gleich die Maximallösung fordert?
6. Appell
Wie immer schlagen die Wellen nach den Wahlen hoch. Es sollte allen Diskussionsteilnehmern jetzt darum gehen die Wogen zu glätten und zu einem vernünftigen Umgang miteinander zurückzukehren. Dazu gehört auch, dass kontroverse Ansichten innerhalb des Projektes (und nicht in den sozialen Netzwerken) freundlich - aber offen und faktenbasiert - angesprochen, diskutiert und einer vernünftigen Lösung zugeführt werden. (Siehe Avianca Flug Nummer 52) Und um es mit Tatcitus zu sagen: Sine ira et studio (lat. ohne Zorn und Eifer).
Das heißt konkret:
6.1 Jede/r lässt sich auf die Diskussion ein und nutzt die Kommunikationskanäle des Projektes. Wer an einem Kommunikationskanal teilnimmt, verzichtet bitte darauf, den Teilnehmern des Kommunikationskanals pauschal und unbegründet Dinge vorzuwerfen.
6.2. Niemand profiliert sich durch sein Engagement gegenüber Dritten, die mit dem Projekt wenig oder gar nichts zu tun haben, wenn dadurch das Ansehen des Projekts Schaden nehmen kann.
6.3 Äußerungen und Begriffe, die mit einem negativen Beiklang, Beteiligte auf einzelne Aspekte reduzieren oder im Diversity-Kontext als Kampfbegriffe verwendet werden, sollten unterbleiben.
6.4 Unabhängig erhobenene bzw. überprüfte Fakten sollten die Entscheidungsgrundlage sein. Wenn die eigene Meinung nicht dadurch belegt werden kann, sollte sie nicht als Fakt oder die einzig wahre Meinung dargestellt werden. Das sollte auch für widerlegte Thesen gelten.
6.5 Jeder Teilnehmer am Diskurs muss den belegten Nutzen für das Projekt als Ziel des eigenen Handelns haben. Die eigene politische Agenda hat bitte außen vor zu bleiben, wenn sie den Zielen des Projekts nicht dienlich ist.
gez.: Ein alter weißer Mann.
Zitat eines großen luxembourgischen Gelehrten: “Ad favorem de libera tabula geographica mundi.”
Edit: - nur die Lesbarkeit verbessert - und Tipp- und Grammatikfehler korrigiert.