OpenStreetMap

Bing contra Wirklichkeit

Posted by kreuzschnabel on 24 August 2016 in German (Deutsch). Last updated on 2 September 2016.

Die Faszination des Bing-Luftbildes als Mapping-Quelle macht sich besonders dann bemerkbar, wenn man eine Gegend bearbeitet, die in der Vor-Bing-Ära gemappt wurde, meist nach einmaligem Abtracken per GPS, wo schnurgerade Straßen Schlangenlinien machen oder um 50 m versetzt sind. Man lächelt milde und stellt das alles „richtig“. Nach dem Bing-Luftbild, versteht sich, denn das hat ja recht.

Oder?

Auch 170 Jahre Fotografie und fast ebenso viele Jahre Fototricks haben uns offenbar noch nicht abgewöhnen können, das, was wir realitätsnah auf einem Bild sehen, als Wahrheit zu betrachten. Auch Bing verführt uns in dieser Weise. Dabei wäre Vorsicht angebracht. Schaun wir mal auf die B 54 nördlich Bad Schwalbach: Fehlerhafte Straßendarstellung

Wieso ist die Straße ein gerader Strich? Hat es sich hier nicht ein Mapper zu einfach gemacht? Auf dem Luftbild geht sie doch nach rechts. Komm, das müssen wir gleich mal korrigieren!

Ich kenne diesen Reflex. Aber in diesem Fall widerstehe ich ihm, denn ich kenne auch die Straße persönlich. Und die verläuft da genau so, wie sie gemappt ist – der Bogen nach Osten ist schlicht ein Fehler im Luftbild. Man könnte es anhand der relativ scharfen Knicke an den Enden schon ahnen, kein vernünftiger Mensch baut so was in eine Bundesstraße ein.

Tröstlicherweise ist auch die Vereinigung Hessischer GPX-Tracks mit überwältigender Mehrheit dieser Meinung: Gerade GPX-Tracks

Wie kommt es zu diesen Fehlern? Nun bin ich kein Fachmann im Geoingenieurwesen, aber ich reime es mir etwa so zusammen:

Nicht jeder Punkt des Luftbildes ist senkrecht von oben aufgenommen. Das geht ja gar nicht. Das Luftbild besteht aus vielen Einzelaufnahmen, und alle Punkte, die zufällig am Rand des Bildfeldes einer Einzelaufnahme lagen, wurden schräg fotografiert.

Aber das macht ja nichts – wenn da nicht das Gelände wäre.

Nimm zur Verdeutlichung mal an, rechts außen im Bild steht ein Aussichtsturm auf einem Berg. Dessen Turmspitze sollte einklich mittig über seiner Standfläche sein, von der Geoposition her, alles andere wäre für den Turm gar nicht gut. Ist sie aber nicht, weil der Turm schräg fotografiert wurde, er scheint auf dem Bild zu kippen, die Spitze ist weiter außen als die Grundfläche. Welcher Punkt des Turmes ist jetzt seine „richtige“ Position, wo setzt du den Node hin? Und jetzt kommt’s: Das gilt nicht nur für den Turm, sondern auch für den Berg, auf dem er steht. Auch der wurde schräg fotografiert und kippt deshalb nach außen (das fällt nur nicht so auf wie beim Turm).

Deshalb müssen Luftbilder aufwendig entzerrt werden: Man legt ein Höhenmodell des Geländes darüber, berechnet für ein Raster von Referenzpunkten den seitlichen Versatz, der sich aus Höhe und Aufnahmewinkel ergibt, und verbiegt das Bild entsprechend in die andere Richtung. Hoffentlich halbwegs zutreffend. Denn erstens kann dieses Referenzpunktraster nicht beliebig engmaschig werden, deshalb stimmt die Entzerrung immer nur im Mittel, und zweitens ist auch das Höhenmodell nicht metergenau und löst keine feinen Strukturen auf.

Wenn das klappt, steht das untere Ende unseres Turmes auf der richtigen Geoposition. Aber in einem engen Flusstal wie dem Aartal oben im Bild kann es da schnell passieren, dass entweder das Höhenmodell nicht genau genug ist oder die Referenzpunkte zufällig auf den Hängen statt im Talgrund liegen. Die Punkte dazwischen werden ausgemittelt, und schon haben wir den Salat – eine gerade Struktur wird ans Gelände angepasst. Weil die Software zufällig auf die Hänge korrigierte, nicht aufs Tal.

TL;DR: Auch Bing verkündet kein Evangelium. Die Luftbilder müssen entzerrt werden, um einigermaßen lagegenau zu sein, und diese Entzerrung hat ihre technischen Grenzen. Die genaueste Quelle ist immer noch Ortskenntnis und eine Vielzahl von GPS-Tracks, deren Messfehler sich ausmittelt.

STL;SDR: Bing ist keine Referenz, Bing ist ein Werkzeug.

–ks

Location: 65329, Hessen, 65329, Deutschland

Discussion

Comment from streckenkundler on 24 August 2016 at 14:36

Sicher werden mittlerweile Höhenmodelle zur Lageverbesserung verwendet, das war aber nicht immer so. Vorher ging es mit auf dem Luftbild sichtbare und speziell gesetzte Passpunkte oder andere sichtbare Punkte. Zu Zeiten, als noch nicht digital beflogen wurde, wurden die Luftbilder dann manuell entzerrt und dann belichtet (ich hab das im Studium einmal gemacht). Auch da passte die Lagegenauigkeit hinreichend.

DGM-Genauigkeit:

Hier in Brandenburg, wo flächendeckend ein DGM1 (1x1m-Pixel, bei +/- 30cm Höhengenauigkeit) vorliegt, sind Luftbilder des Landes sehr genau. (Ja, es ist ein echtes DGM1!)

Meinner Meinung nach liegen die Unterschiede aber vor allem einerseits in der Kameratechnik (Objektiv, Auflösung, Einzelbildgröße), der Aufnahmetechnik (Flughöhe, Bildüberdeckung, Flugzeit) und auch im Prozess des Georeferenzieren (z.B. Spline-Transformation beim Georeferenzieren mit von der Anzahl und der Verteilung nicht genügend gesetzten Stützpunkten.

Bei den Bing-Luftbildern schätze ich mal, daß die unter anderem Bildüberdeckung nicht ausreichend war. Aber auch die anderen genannt Faktoren spielten eine Rolle. Dann kommt es zu solchen randlichen Verzerrungen, oder zum “kippen” der Häuser.

In Brandenburg passt Bing meiner Ansicht nach hinreichend gut, auch wenn es auch hier gelegentlich zu Schlangenstraßen kommt, wo es in der Realität keine gibt. Ich nutze dienstlich Bing außerhalb von OSM und sehe so die Lageunterschiede zu Luftbilder des Landes Brandenburg.

Sven

Comment from kreuzschnabel on 24 August 2016 at 16:23

Danke für deine Ergänzungen – wie gesagt, ich bin da nicht vom Fach. Nun hat allerdings Brandenburg meines Wissens die Angewohnheit, relativ eben zu sein, da kommt man mit minimalen Korrekturmaßnahmen aus. Hier im Mittelgebirge sind nicht nur die Höhenunterschiede größer, sondern vor allem die Gradienten, man braucht für eine gute Entzerrung also deutlich mehr Referenzpunkte.

Comment from seichter on 2 September 2016 at 07:50

Ich würde den letzten Satz modifizieren: Bing ist schon eine Quelle, aber keine Referenz. Auch GPS-Track-Bündel sind keine Referenz, aber ein einigermaßen genauer Hinweis.

Comment from kreuzschnabel on 2 September 2016 at 11:22

Der letzte Satz war nicht so wörtlich gemeint, mehr eine flapsige Schlussbemerkung. Aber ich hab’s mal geändert.

Comment from dieterdreist on 2 September 2016 at 15:42

Bist Du mal zu der Stelle hingefahren? Nur auf Basis von GPS-Tracks, auch wenn es viele sind, kann man sich nicht 100% sicher sein, es könnte zum einen sein, dass die immer vom selben Gerät mit derselben Korrektur aufgenommen sind (Strecke die ein bestimmter Mapper regelmäßig fährt), oder dass es einen systematischen Fehler durch Reflexion gibt. Wahrscheinlicher ist allerdings ein Problem in Bing, im Detail sind die voller solcher Probleme.

Comment from kreuzschnabel on 2 September 2016 at 15:52

Ich fahre alle paar Wochen dort entlang. Mindestens drei der Tracks sind von mir, in einigen Wochen Abstand aufgenommen.

Comment from dieterdreist on 2 September 2016 at 16:43

sorry, hatte überlesen dass Du die Stelle kennst

Comment from GRUBERND on 15 September 2016 at 20:17

meistens sehr einfach an der Abbildung von Häusern zu sehen ob es sich um ein echtes Orthofoto handelt und damit nach Kontrolle der generellen Lage bedenkenlos abgezeichnet werden kann oder ob es sich nur um einfach Luft- oder Satellitenbilder handelt, die immer mit Vorsicht zu geniessen sind.

mir ist übrigens bei Bing noch nie ein echtes Orthofoto untergekommen.

in Österreich haben wir das Glück selbst im Gebirge korrigierte Luftbilder als Referenz verwenden zu können.

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